BergReim – Auf ein Wort: Poetry Slam
Kulturveranstaltungen in Corona-Zeiten haben ihre eigenen Gesetze. Jetzt haben wir einen guten Vergleich: Am 24. Mai 2019 fand in Gleis11 der letzte Poetry-Slam statt. Der Bahnhof war voll besetzt, die Leute saßen dicht an dicht, man klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel oder dem Nachbarn auf die Schultern.
Am 4. September 2020 sah es so aus: Die Veranstaltung war vom kleinen schnuckeligen Gleis11 in das riesige Bürgerhaus verlegt worden, wo ca. 40 Besucher*innen in weiten Abständen maskenbewehrt saßen (mit Beginn der Vorstellung durften die Masken fallen). Natürlich gaben alle – Zuschauer*innen und Künstler*innen – ihr Bestes, aber der immer wieder aufbrandende Jubel verlor sich gelegentlich in den Weiten der Großraumhalle.
An den Künstler*innen lag es nicht! Sie hatten Texte mitgebracht, die die ganze Bandbreite menschlich/psychologisch/politisch/soziologisch/ökologischer Empfindungen aufwiesen.
Olivia Beatrix Mruczynski aus Düsseldorf räsonierte poetisch über zarte Liebesanbahnungen, Alina Schmölke, ebenfalls Düsseldorf, trug einen sehr klugen ironischen Text zur Me-Too-Debatte vor. Der Kölner Tobias Engbring informierte selbstironisch über eine interkulturelle chinesisch-deutsche Liebes-(oder doch nur Freundschafts-?)Affäre. Dass es auch bei deutsch-deutschen Liebesanbahnungen extrem peinlich zugehen kann, vor allem, wenn sie mit Darmproblemen verbunden sind, die hier nicht näher beschrieben werden sollen, wusste Jan Schmidt aus Bochum zu berichten. Fleming Witt, ebenfalls aus Bochum, ist schon einen Schritt weiter: In seinem Text „Du weißt es jetzt noch nicht!“ liest er aus einem Brief an seinen ungeborenen Sohn vor. Er phantasiert dabei auf komischste Weise, wie peinlich seinem Sohn der Vater einst sein wird – alles natürlich nur aus Liebe!
Olivia, Tobias, August - die Sieger (v.l.)
Tobias Kunze aus Hannover performt einen rasanten Rap über alles: Konsum, Kino, TV, Politik – alles wird schneller: „Ich komme nicht mehr hinterher! Vor allem mit dem Verzweifeln!“ Tragikomisch nennt man so etwas wohl. Und zum Schluss macht August Klar seinem Paderborner Comedian-Kollegen Rüdiger Hoffmann in puncto Langsamkeit, gepaart mit Bissigkeit Konkurrenz: Im Text über Dinosaurier bringt er das Publikum dazu, Saurier-Laute beizutragen – entwaffnend! Moderiert wurde der Abend vom gut gelaunten Bernard Hoffmeister.
Die Jury – fünf Leute aus dem Publikum – hatte es nicht leicht. Sie schickte drei Performer ins Finale: Olivia Beatrix Mruczynski, Tobias Kunze und August Klar. Tobias Kunze siegte mit einem sehr politischen Text, gespickt mit zugerufenen Begriffen aus dem Publikum. Sein Fazit in Hinblick auf die menschengemachte Klimakatastrophe: „Wir sind dümmer als die Dinosaurier!“
Man stelle sich diese fulminanten Poetry-Performer*innen mit ihren intelligenten, sprachlich virtuosen, selbstironischen, kämpferischen und schauspielerisch brillant vorgetragenen Texten im Gleis11 vor: Die Hütte hätte diese Energie kaum ausgehalten! Freuen wir uns aufs nächste Jahr, dann platzt Gleis11 aus allen Nähten und wir hauen uns wieder auf Schenkel und Schultern!
Bernd Woidtke