Klütten
Der zweite Weltkrieg war schon einige Jahre vorbei, und man schrieb das Jahr 1947. Die Lebensmittelkarten waren wie bisher Bestand der Grundversorgung. Doch es fehlte immer noch an Hausbrand. Kaufen konnte man keine Briketts, obwohl man in einem Braunkohlengebiet wohnte. Um eine warme Mahlzeit zubereiten zu können, wurden alte Möbelteile verheizt, oder man ging in den Wald und sammelte Holz, was aber streng verboten war. Doch womit beheizten die Nachbarn eigentlich ihre Öfen?
Man fragte diesen und jenen und fand schließlich heraus, dass sich in den späten Abendstunden, wenn es bereits dunkel war, eine Karawane von Menschen mit kleinen Wägelchen — sog. Polterwagen — nach Neurath auf den Weg machte, um sich in der Fabrik selbst zu bedienen. Hier in Neurath befand sich die Fabrik, wo die „Klütten" - so nennt man im Volksmund die Briketts - hergestellt wurden. Hier standen die Maschinen, wo die im Tagebau geförderten Braunkohlenbrocken - der Volksmund nennt sie „Knabbelen" - gemahlen, in den großen Pressen zu Briketts geformt wurden, die dann auf Transportbändern zu den bereit stehenden Waggons transportiert wurden und in diese abgeladen wurden. Viele Briketts fielen jedoch daneben, wurden blitzschnell aufgehoben und in mitgebrachten Säcken verstaut. Das Poltern der Karren hatten wir schon oft gehört, konnten es jedoch nicht deuten. Aber jetzt wussten wir endlich Bescheid.
Und eines Abends hörten wir im Dorf die Geräusche von Polterwagen. „ Et ging loss!" Unseren Wagen hatten wir schon frisch geölt bereit stehen, die Deichsel hatte einen neuen Griff bekommen und wir hatten auch einige Säcke aufgetrieben. Wir orientierten uns an den Anderen und reihten uns in den Treck ein. Schweigend ging es jetzt durch die Nacht. Unterwegs reihten sich immer mehr Menschen mit Karren in die Karawane ein und folgten denen, die sich auskannten und nicht das erste Mal hier waren. Und dann standen wir plötzlich in der Klüttenfabrik genau vor den Transportbändern. Und wie die Anderen griffen wir nach den noch warmen Klütten und verstauten sie in unseren Sack. Einige Wochen später, inzwischen ging es auf Ostern zu, hörten wir draußen das bereits bekannte Gerumpel. Mein Bruder und ich schlossen uns dem Treck an. Dieses Mal füllten wir jedoch nicht unsere Säcke sondern stapelten die Briketts schön über- und nebeneinander in unseren Wagen. So konnten wir mehr einsammeln. Aber als es dann in der „Neurather Hüll „ bergauf ging, hatten wir Mühe, mit den Anderen mitzuhalten. Zu Hause angekommen, wurde zuerst einmal im Herd Feuer gemacht
Endlich hatten wir Brennmaterial. Dann wurde gekocht. Es war nicht viel, aber es war warm und schmeckte köstlich. Aber so ganz wohl war uns nicht nach dieser „Diebestour." Steht doch in der Bibel geschrieben: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut!" Im Kölner Erzbistum residierte zu dieser Zeit Kardinal Frings. Er kannte die Not der Bevölkerung und wusste von den Gewissensbissen, die viele quälte, wenn sie einem anderen etwas weggenommen hatten, was ihnen nicht gehörte. Er erklärte daraufhin in einer Predigt: Wenn ein Diebstahl dazu dient, ein lebensnotwendiges Bedürfnis zu befriedigen oder seinen Hunger zu stillen, so sei das keine Sünde. Die Bevölkerung im Rheinland gab dann diesem Eigentumswechsel den Namen „ Fringsen", und Fringsen galt ab dato nicht mehr als Sünde.
Wer es jetzt gerne mal schön warm haben wollte, oder sich ein leckeres Süppchen kochen wollte - soweit die vorhandenen Vorräte es erlaubten - der brauchte nun kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, wenn er sein Vorhaben mit geklauten Briketts verwirklichte.
Geschrieben von einer sehr betagten Bergheimer Bürgerin
Vielen Dank an das Seniorenportal Bergheim, das uns den Beitrag zur Verfügung gestellt hat.